Ein lang gehegter Mythos wurde widerlegt

Zu hohe Cholesterinwerte wurden bisher mit Tabletten und strengen Diäten bekämpft da sie als hochgradig gesundheitsschädlich galten. Jetzt signalisieren Forscher Entwarnung.

Eine ganze Weile schien klar, was zu tun ist. Man musste an den Frühstückseiern sparen, wenn man sich vor einem Herzinfarkt schützen wollte. Überhaupt an Eiern in der Ernährung. Außerdem an Butter. Und an Steaks. Diese Lebensmittel enthielten zu viel Cholesterin, ihr Verzehr lasse den Spiegel dieses Stoffes im Blut in die Höhe schießen, hieß es. Also Müsli zum Frühstück. Wenn der Cholesterinspiegel bereits zu hoch war, halfen nur noch Tabletten. Das Cholesterin müsse runter, um jeden Preis. Cholesterin sei schließlich hochgefährlich.

So klar ist das nicht mehr. Die Medizin ist eine Wissenschaft, die fortlaufend zu neuen Erkenntnissen kommt. Zu neuen Warnungen oder Entwarnungen. Frühstückseier kann man nach neustem Kenntnisstand wieder essen, so oft man möchte, ohne sich um sein Herz sorgen zu müssen.

Was gilt denn nun?

Vieles von dem, was man über das Cholesterin und seine Wirkungen auf den Menschen zu wissen glaubte, steht zur Debatte. Wie hoch darf der Spiegel im Blut sein? Ist das Herz bei erhöhten Werten immer in Gefahr? Sollte man den Spiegel mit Tabletten senken – und wenn ja, mit welchen? Und wer sollte sich überhaupt um seinen Cholesterinspiegel sorgen?

Cholesterin ist nicht an sich schädlich. Der größte Teil des Cholesterins im menschlichen Organismus stammt aus körpereigener Produktion und wird gebraucht. Um Zellwände stabil zu halten, Sexualhormone zu produzieren, für die Beweglichkeit der Neuronen. Cholesterin ist selbst kein Fett, aber fettlöslich und wird im Körper mithilfe von Lipoproteinen transportiert, vor allem vom „Low Density Lipoprotein“. In Verbindung mit dem Transportstoff spricht man von LDL-Cholesterin, und diese Verbindung ist es, die als schädlich für den Körper gilt.

Für wen gilt was?

Es gibt Menschen, bei denen sich die Wissenschaft einig ist. Der Cholesterinspiegel dieser Menschen ist lebensgefährlich hoch. Es handelt sich um eine Gruppe schwer kranker, erblich vorbelasteter Patienten, deren Körper mit LDL-Cholesterin regelrecht geflutet wird. Man sollte nicht mehr als 100 Milligramm von diesem Stoff in einem Deziliter Blut haben, diese Patienten kommen auf den zehnfachen Wert. Das Cholesterin lagert sich an den Wänden ihrer Arterien ab, bis kaum noch Blut hindurchfließen kann. Die Patienten werden oft nicht älter als Anfang 30. Medikamente aus der Klasse der Statine, die den Lipidanteil im Blut senken sollen und die millionenfach gegen erhöhte Cholesterinwerte verordnet werden, wirken bei ihnen kaum.

Vor allem diese extrem gefährdeten Patienten könnten von neuen Medikamenten profitieren, die versuchen, den Rezeptoren in den Leberzellen die Arbeit zu erleichtern. Diese Zellen nehmen das LDL-Cholesterin aus dem Blut auf und transportieren es in das Innere der Zellen. Dort wird der Stoff abgebaut. Oft werden die Rezeptoren aber von einem Protein namens „PCSK9“ blockiert. Wenn man dieses Protein ausschaltet, können die Leberzellen effizienter arbeiten und mehr schädliches Cholesterin beseitigen. Pharmaunternehmen arbeiten seit Jahren an Medikamenten, die hier ansetzen, nun kommen die ersten Präparate auf den Markt.

Bereits in Deutschland zugelassen, aber noch nicht in den Apotheken, ist seit Juli das Mittel Evolocumab, das in Studien nach zwölf Wochen eine LDL-Senkung um 60 bis 70 Prozent erbracht hat. Der Wirkstoff Alirocumab bekommt gerade seine EU-weite Zulassung, und ein dritter namens Bococizumab durchläuft die letzten klinischen Studien.

Einige Stoffwechselexperten sehen in den neuen Pillen auch eine Option für Patienten, deren Cholesterinwerte zwar nicht wegen einer Erbkrankheit um das Zehnfache erhöht sind, aber über den empfohlenen Werten liegen, und sich ebenfalls nicht mit den bekannten Statinen senken lassen.

Bald müsste fast überhaupt niemand mehr mit einem erhöhten Cholesterinspiegel leben, sagen Optimisten unter den Medizinern. Skeptiker werfen ein, dass dieser Erfolg mit einer erheblichen Gefahr verbunden sein könnte. Cholesterin mag schlecht für das Herz sein. Aber das Gehirn braucht den Stoff, und zwar nicht zu knapp. Er ist auch ein Baustoff für die Synapsen, jene Knotenpunkte, die dafür sorgen, dass die Milliarden Nervenzellen im Gehirn sinnvoll in Verbindung treten können.

Wird diesem System das Cholesterin entzogen, leidet das Gedächtnis. Wer Statine oder andere Cholesterinsenker einzunehmen beginnt, hat im folgenden Monat fast viermal so oft mit Gedächtnisstörungen zu tun wie jemand, der seinen Cholesterinspiegel nicht senkt. Je stärker der cholesterinsenkende Effekt eines Medikaments, umso mehr leidet das Gehirn. Zu den möglichen Nebenwirkungen der neuen Medikamente gehören Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsstörungen sowie geistige Verwirrtheit. Sogar umfassende Amnesien können nicht ausgeschlossen werden.

Der dänische Mediziner Uffe Ravnskov warnt schon lange davor, bei allen Patienten den Cholesterinspiegel zu senken. Man richte damit mehr Schaden als Nutzen an. „50 Prozent der Menschen, die einen Herzinfarkt erleiden, haben einen hohen Cholesterinspiegel“, sagt Ravnskov, der 2003 ein internationales Forschernetzwerk von Cholesterinskeptikern ins Leben rief. „Die andere Hälfte hat einen niedrigen Cholesterinspiegel und dennoch Arteriosklerose.“ Ihre Gefäße verkleben, obwohl die Blutfettwerte ganz normal sind. Es sei zwar unbestritten, dass cholesterinsenkende Medikamente tatsächlich das Fett aus den Gefäßen verdrängen. „Doch ob dies auch zu einer Senkung des Herzinfarktrisikos führt, ist ganz und gar nicht sicher.“

Bestätigt wird diese Skepsis durch eine aktuelle Studie des unabhängigen Forschernetzwerks Cochrane Collaboration. „Wenn 1000 Personen fünf Jahre lang ein Statin einnehmen, werden 18 einen Herzinfarkt vermeiden“, schreiben die Forscher.

Die bekannten Maßnahmen

Für 982 Patienten senkt die Einnahme der Tabletten das Risiko also nicht – aber auch sie setzen sich möglichen Nebenwirkungen aus. Einige Kilo abzunehmen oder den Blutdruck zu senken, am besten durch eine Umstellung der Lebensweise, mehr Bewegung, weniger Stress, reduziert das Herzinfarktrisiko in vergleichbaren Maß.

Es macht nach Forschungslage keinen Sinn, jedem mittelalten, übergewichtigen Mann mit mäßig erhöhtem Cholesterinspiegel ein Statin oder ein vergleichbares Mittel zu verordnen. Nikolaus Marx von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie sagt, dass man vor jeder Verschreibung „andere Faktoren, wie Bluthochdruck, Diabetes, Alter, Geschlecht und eine mögliche familiäre Veranlagung berücksichtigen“ müsse.

Die Nebenwirkungen der Cholesterinsenker beschränken sich nicht auf ein wenig Vergesslichkeit. Bei jedem dritten Patienten verursachen Statine auch Muskelschmerzen. Außerdem steigern sie das Diabetes-Risiko, und zwar um bis zu 32 Prozent, weil sie eine Immunantwort im Körper auslösen, die das Stoffwechselhormon Insulin einschränkt. Der Preis für einen sinkenden Cholesterinwert könnte ein steigender Blutzuckerwert sein. Zumindest dieses Risiko haben die neuen Pillen offenbar nicht.

Man könnte meinen, dass Statine nur noch auf dem Markt sind, weil die Hersteller ein riesiges Geschäft mit den Medikamenten machen, 25 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr weltweit. Soweit wollen die meisten Kritiker nicht gehen. Statine seien wirkungsvoll und notwendig – aber eben nur für eine Gruppe von Patienten.

Und zwar für diejenigen, die bereits einen Herzinfarkt erlitten haben. Der Nutzen der Statine auf die Sekundärprävention, also zur Verhinderung eines zweiten Infarkts, ist unbestritten. Geschädigte Blutgefäße sind besonders anfällig für Cholesterinablagerungen. „Wir sollten diese Patienten nicht weiter verunsichern“, sagt Jonathan Schertzer von der McMaster University in Ontario, „sondern daran arbeiten, die Medikamente zu verbessern“. Dem kanadischen Biochemiker und seinem Team ist im Laborexperiment gelungen, den insulinhemmenden Effekt der Statine durch eine Art Harnstoff-Hülle zu entschärfen. Auch eine Ernährungsumstellung könnte die Wirksamkeit der Medikamente erhöhen und Nebenwirkungen mindern. Lebensmittel mit antioxidativer Wirkung oder vielen ungesättigten Fettsäuren könnten die Nervenmembranen stärken. Schertzer rät zu einer von der japanischen Küche inspirierten Kost, mit viel Grüntee und Fisch. Und auch Eiern, wenn man mag. Die enthalten zwar nach wie vor viel Cholesterin. Das macht aber nichts, ihr Cholesterin landet nicht nach dem Frühstück im Blut. Und auch später nicht.

Warnungen aufgehoben

Die Gesundheitsbehörden der USA haben in diesem Jahr ihre Warnungen vor Eiern, Butter und 300-Gramm-Steaks aufgehoben. Ein Experten-Gremium kam nach Auswertung der wissenschaftlichen Datenlage zu dem Schluss, dass es nichts bringt, auf diese Speisen zu verzichten. Es lasse sich „kein nennenswerter Zusammenhang zwischen dem Cholesterinwert und der Cholesterinzufuhr über die Lebensmittel erkennen“. Man könne, zumindest bei einem gesunden Menschen, Cholesterin kaum überdosieren, weil der Körper über Schutzmechanismen verfügt. Zu viel Butter oder rotes Fleisch bergen bekanntlich andere Gefahren, aber um die ging es in dieser Bewertung nicht.

Statt cholesterinreiche Nahrungsmittel auf den Index zu setzen, sollte man, so die Empfehlung des 14-köpfigen Gremiums aus Medizinern und Ernährungswissenschaftlern, lieber mehr Obst und Gemüse essen.

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